Lines Stimme bleibt

Am 20. Mai 2023, eine Woche nach der Premiere des Alpen Film Festivals, verunglückte die Alpinistin Line van den Berg tödlich. Mit ihrem Film „My Phantom“ halten wir die Erinnerung an sie lebendig.

Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ob wir nicht noch auf ein Bier gingen, alle zusammen, ein bisschen Party machen, die gelungene Premiere des Alpen Film Festivals feiern? Ne, Line, wir sind platt, wenig Schlaf die vergangenen Tage, morgen ist Montag, das Kind muss in die Schule und außerdem sind wir keine 30 mehr…

Line van den Berg war 30, bald würde sie 31 werden. Eine junge Frau, aufgewachsen in den Niederlanden, in der Schweiz lebend, ein Mathematikstudium und den Doktor für Logik in der Tasche, voller Energie und Enthusiasmus und Leidenschaft für hohe Gipfel und düstere Nordwände. Ihr Film „My Phantom“ würde, das war uns schon beim ersten Sichten klar gewesen, das Alpen Film Festival bereichern. Darin erzählt Line, wie sie auf der Suche nach der perfekten Seilpartnerin in einer männlich dominierten Alpinszene zunehmend wütend und verzweifelt wird. Bis sie feststellt, dass sie die Wünsche und Bedürfnisse, die sie lange nach außen richtete, nur selbst erfüllen kann. „My Phantom“ entpuppt sich als Trugbild. Als Vorstellung vom eigenen Ich, von den Mitmenschen, von der Welt, die wir vergeblich zu verwirklichen suchen. Bis wir feststellen, dass jede Veränderung nur mit und in uns selbst beginnen kann.

So zumindest verstehe ich den Film, der natürlich auch beeindruckende Bilder zeigt. In erster Linie von der legendären – und namensgebenden – „Phantom Direct“ in der Südwand der Grandes Jorasses, die Line und ihre Gefährtin Fay Manners im Januar 2022 klettern konnten. Damit schafften sie den First Female Ascent (FFA) der Route, und die fünfte überhaupt.

Warum sie glaube, fragte ich Line auf der Premierenbühne im Münchner Rio Filmpalast, dass ihr Film notwendig sei. Line atmete kurz durch. Dann erzählte sie, ihr sei schon als Mädchen bewusst geworden, dass sie anders behandelt werde als ihre Brüder. Diese Ungleichbehandlung „sehe ich bis heute, überall, in der Erziehung, in der Schule, der Universität, im Beruf, in der Werbung, den Medien, auch in der Bergsteigerwelt“. Ihr Film, fuhr Line fort, drehe sich nur vordergründig um sie. Ihr gehe es darum, die Stimme zu erheben. Weil sie das Gefühl habe, dass diese Stimme fehlen würde. Und dass es wichtig sei, andere Frauen zu ermutigen, ihr eigenes Phantom zu suchen, ihren eigenen Weg finden, und damit die Welt zu verändern.

Eine Woche nach unserem Gespräch in München verunglückte Line in den Berner Alpen tödlich. Mit ihren Freunden Mats Wentholt und Jeroen van Ommen hatte sie die im Jahr 2000 erstbegangene „Via Neerlandica“ in der Westwand des Großhorn (3754 m) geklettert. Im Abstieg wurden die Alpinisten von einer Lawine mitgerissen. Ich sehe Line noch vor mir, wie sie mich ungläubig anblickt: Okay, kein Bier mehr nach der Premiere, schade. Was für eine versäumte Gelegenheit, denke ich heute. Und wie unfassbar traurig es ist, dass dieser fröhliche, humorvolle, gescheite, hinterfragende, kämpfende, ebenso selbstsichere wie zweifelnde Mensch nicht mehr da ist.

Natürlich haben wir uns als Veranstalter des Alpen Film Festivals die Frage gestellt, ob es vertretbar ist, Lines „My Phantom“ weiterhin zu zeigen. Viele Menschen haben uns dazu ermutigt, und schließlich ließen uns auch ihre Eltern Trudy Vos und Albert van den Berg ausrichten, sie würden sich freuen, wenn Lines Film weiterhin liefe. Gerade mal 30 ist sie geworden. Von einem Vermächtnis zu sprechen, wäre sicher zu viel gesagt. Es würde auch nicht zu Line passen. Dass wir ihre Gedanken und Gefühle, ihre Ideen, ihre Botschaft weiterhin auf großer Leinwand zeigen dürfen, ist aber zumindest ein kleiner Trost. Denn so wird Line weiterleben, in unseren Köpfen und in unseren Herzen.