In den Bergen unterwegs zu sein, ist gut für mich. Nicht in den Bergen unterwegs zu sein, ist gut für andere und die Natur ganz allgemein. Was also soll ich tun? Wie soll ich mich verhalten – meinen Mitmenschen und der Berg-Natur-Kultur-Landschaft gegenüber?
Ich habe das Gefühl, dass sich immer mehr Menschen in den Bergen aufhalten – nicht überall, aber doch an vielen, oft sehr schönen Orten. Da ich dieses Gefühl mit Freunden und Bekannten teile, kann es nicht ganz falsch sein. Zumal die Probleme, die sich als „Overtourism“ – oder „Overalpinism“ – zusammenfassen lassen, offensichtlich da sind.
Die Kritik am Tourismus sei genauso alt wie dieser selbst, schrieb Hans Magnus Enzensberger 1958 in seinem Essay „Vergebliche Brandung der Ferne“. Eine „Schlüsselrolle“ besetze in diesem Zusammenhang der Alpinismus, der „die romantische Ideologie des Tourismus besonders rein verkörpert“. Der Alpinismus suche das „Elementare“, das „Unberührte“, das „Abenteuer“, vernichtet es aber just in dem Augenblick, in dem er es findet. Alpinisten machen das Unzugängliche durch ihr Tun zugänglich. Im Falle von Erstbegehungen, Gebietserschließungen, Erstbefahrungen ist das offensichtlich. Es gilt aber auch generell für alle, die sich in den Bergen bewegen und damit beispielgebend sind für die, die es noch nicht tun.
Vermutlich kommt man aus dieser Nummer nur heraus, wenn man auf die Berge komplett verzichtet. Aber wer will das schon. Was also tun? Ziehen wir eine Orientierungshilfe zu Rate, die der Philosoph Markus Gabriel in Form „moralischer Tatsachen“ anbietet. Diese dienten dazu, mögliche Handlungen „nach Maßstäben des Guten, Neutralen und Bösen zu klassifizieren. Diese Klassifikation liegt nicht im Auge des Betrachters, sie ist keine Geschmacksfrage“, sondern allgemein verbindlich. Probieren wir es aus.
Zum Beispiel würde ich sagen, dass eine Erstbegehung – in Fels, Eis oder kombiniertem Gelände und nach Gutdünken des Erstbegehers eingerichtet – moralisch neutral ist. Vielleicht trägt sie positiv zum Selbstbild des Erstbegehers bei, das ist okay, aber kein hinlänglicher Grund, seine Leistung als moralisch gut werten. Andererseits tut eine Erstbegehung auch niemandem weh. Vorausgesetzt, der Erstbegeher respektiert Privatgrund, ansässige Fauna und die Welt der Pflanzen, die nach Ansicht moderner Naturwissenschaft radikalste Form des In-der-Welt-Seins.
Der Respektsmaßstab muss unabhängig von behördlich verordnetem und von Interessen geleitetem Naturschutz angelegt werden. Dann sind Erstbegehungen meiner Ansicht nach, sofern sie mit gesundem Menschenverstand umgesetzt werden, auch außerhalb der Legalität legitim. Aber das nur nebenbei.
Was bedeutet das für Enzensbergers „Dialektik“ des touristischen Vorgangs? Wie verwirklichen wir eine Erstbegehung – oder das einsame Gipfelerlebnis, das Biwak unter freiem Himmel, das unentdeckte #vanlife –, ohne weitere Erlebnisse gleicher Art in Zukunft zu verunmöglichen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir den Vorgang des Unterwegsseins genauer betrachten, der ja aus vielen einzelnen Handlungen besteht: Wir recherchieren, planen, packen, reisen an, klettern, wandern, fahren Ski und wieder heim. Jede einzelne dieser Tätigkeiten lässt sich auf ihren moralischen Wert hin prüfen. Ich zum Beispiel komme dann zu der Einsicht, dass ich viel zu oft mit dem Auto und viel zu selten mit Zug oder Fahrrad in die Berge reise.
Bezogen auf das Phänomen „Overalpinism“ ist eine weitere Teilhandlung von besonderer Bedeutung: die Darstellung des Erlebten in sozialen Massenmedien. Während die Erstbegehung, das Gipfelerlebnis, das Biwak und das #vanlife als Gesamtkomplex moralisch neutral sind, kann man die Frage stellen, ob dies für Postings auf Instagram, Facebook, Snapchat und TikTok ebenso gilt. Mein Eindruck ist, dass es dabei in erster Linie um soziales Prestige geht, also um die Währung der Aufmerksamkeitsökonomie.
Wer das Erlebte derart zur Schau stellt, macht sich zum Teil einer Industrie, des Tourismus‘, „deren Produktion mit ihrer Reklame identisch ist: ihre Konsumenten sind zugleich ihre Angestellten“ (Enzensberger). Ob man dies will, muss jeder selbst entscheiden. Ich finde, moralisch betrachtet wäre der Verzicht auf Selbstdarstellung in sozialen Medien zumindest bedenkenswert. Das gilt für Erstbegehungen, Gipfeltage, Biwaks, #vanlife und das echte Leben.
Der Text erschien erstmalig im Rahmen der Kolumne „In unsrer Natur“, Bergundsteigen, Ausgabe Frühjahr 21 / # 114, www.bergundsteigen.blog
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