Mahsa Amini

„Wir sind Mahsa Amini!“

Am 16. September 2022 starb die 22-jährige Iranerin Mahsa Amini, nachdem sie von der Sittenpolizei in Teheran festgenommen wurde. Seitdem protestieren unerhört mutige, vor allem junge Frauen im ganzen Land für Menschenrechte, Gleichberechtigung und gegen die Unterdrückung eines totalitären Regimes. Tom Dauer sprach mit der Kletterin Nasim Eshqi über die Situation in Iran und ihre persönlichen Konsequenzen.

Mahsa Amini
© Foto: Ray Demski

Nasim, wo bist Du gerade?

Momentan bin ich bei Freunden in Italien. Ich will mich nicht mehr selbst zensieren müssen. Deshalb habe ich mich entschieden, nach einem Klettertrip durch Frankreich nicht mehr nach Iran zurückzukehren.

War das eine spontane Entscheidung aufgrund der aktuellen Situation?

Nein, das ist das Ergebnis einer längeren Entwicklung. Aber natürlich spielen die Geschehnisse in Iran eine Rolle. Es war Zeit für mich, mich zu entscheiden.

Und wie geht es Dir?

Wenn ich in Europa bin, sehe ich normalerweise nur Felsen, nichts anderes. Reisen, klettern, von einem Gebiet zum nächsten, das ist es. Seitdem Mahsa Amini getötet wurde, ist alles anders. Klettern hat momentan keine Bedeutung für mich. Ich habe das Gefühl, ich hätte sie sein können. Ich bin in Iran verhaftet worden, ich war im selben Gewahrsam, ich wurde angeschrien und beleidigt. Das ist einige Jahre her, und ich traute mich danach lange nicht mehr aus dem Haus. Und das ist genau das, was das Regime will.

Diese Erfahrung müssen leider viele Iranerinnen machen.

Ja, und wir alle haben das Gefühl, wir sind Mahsa Amini. Das ist ein schreckliches Gefühl der Ohnmacht. Deshalb ist es für mich so wichtig, iranischen Frauen eine Stimme zu geben. Ich bin nonstop am Telefon, um zu kommunizieren und die sozialen Medien zu nutzen. Unsere Regierung attackiert ihr eigenes Volk auf brutale Art und Weise. In Europa ist man stolz auf junge Menschen, die studieren. In Teheran wurden Studentinnen und Studenten der Sharif-Universität von Polizei und Basidsch, einer paramilitärischen Miliz, eingekesselt, bedroht, geschlagen. Das war wie im Krieg. Es ist unglaublich, verrückt und einfach nur traurig.

Wie informierst du dich über die Lage vor Ort?

Die Proteste halten nun seit drei Wochen an, das Internet wurde vor gut zehn Tagen gesperrt. Aber es gibt Wege, die Zensur zu umgehen und Nachrichten zu senden. Ich bekomme viele Botschaften und versuche, diese so breit wie möglich unter dem Hashtag #mahsaamini zu streuen. Das Regime versucht, uns zum Schweigen zu bringen, aber das werden sie nicht schaffen. Was in Iran stattfindet, ist kein harmloser Aufstand, es ist eine Revolution, getragen vom Kampf für Frauenrechte.

Wie unterscheiden sich die aktuellen von früheren Protestbewegungen in Iran, etwa den Studentenunruhen 1999 oder dem Green Movement 2009?

Die Unterdrückung, die das Regime ausübt, ist in den vergangenen Jahren viel stärker geworden. Ich glaube, dass deshalb auch die Solidarität in der Bevölkerung heute viel größer ist. Und die junge Generation ist viel mutiger. Die Proteste gehen durch alle Klassen, alle Ethnien. Es gibt nicht den einen Anführer, das ganze Volk ist auf den Straßen. Die Menschen haben genug davon, sich ständig irgendwelchen Regeln fügen zu müssen.

Zumal, wenn sie so tief in die Persönlichkeitsrechte eingreifen…

Es ist immer schön zu beobachten, wie frei sich die Menschen in Europa bewegen können. Sie können sich entscheiden, wer sie sein, was sie werden, welchem Geschlecht sie angehören wollen. In Iran gibt es diese Möglichkeiten nicht. Wenn du in Iran queer bist, wirst du exekutiert.

Wie, glaubst du, wird sich die Situation entwickeln?

Wir werden weitere Opfer bringen müssen. Freiheit kommt nicht umsonst. Aber wir brauchen die Unterstützung westlicher Regierungen und Gesellschaften. Die Politik muss die Bedeutung dessen, was passiert, anerkennen, und zwar nicht nur mit Worten. Die Eliten Irans müssen sanktioniert werden. Im Westen leben viele Kinder und Verwandte der religiösen und weltlichen Machthaber. Sie genießen dort die Privilegien, die den Menschen im Land verweht werden. Das ist paradox, und es muss gestoppt werden. Vielleicht wird es noch lange dauern, aber wir werden gewinnen, da bin ich mir sicher. Wir Frauen können alles erreichen. Wenn wir Kinder auf die Welt bringen können, ist auch alles andere möglich.

Hat der Protest eine kritische Masse entwickelt? Kann er dem Regime gefährlich werden?

Der Mut und die Tapferkeit iranischer Frauen können nicht übersehen oder ignoriert werden. Sie werden geschlagen, sie riskieren ihr Leben, aber sie machen weiter. Frauen führen die Proteste an, und das macht den Mullahs Angst. Selbstbestimmte Frauen sind die Basis einer freien Gesellschaft. Sie können ihre Kinder zu freien Menschen erziehen.

Wie kann die Klettergemeinde den Kampf für Freiheit und Menschenrechte in Iran unterstützen?

Wir müssen dem Protest eine Stimme geben. Jeder kann sich informieren und sein Wissen verbreiten. Niemand soll sagen können, er habe nichts gewusst.

© Fotos: Monica Dalmasso, Zac Moss